Das Muttersprachlerprinzip unter der Lupe
Was das Muttersprachlerprinzip (native speaker principle) bedeutet, ist für Übersetzer in anglophonen Ländern klar. In Großbritannien käme kaum ein Übersetzer auf die Idee, in die Fremdsprache zu übersetzen. Auch die Übersetzerverbände in Großbritannien erwarten, dass man nur in die Muttersprache übersetzt. Aber wie sieht es anderswo aus?
Seit 2002 wohne und arbeite ich als juristische Übersetzerin in Deutschland und war von Anfang an erstaunt, dass in Deutschland ganz andere Regeln für das Übersetzen gelten. Das Muttersprachlerprinzip ist in Deutschland zwar kein fremdes Konzept, das Übersetzen in beide Richtungen ist allerdings gang und gäbe. In manchen Bereichen wird es sogar vorausgesetzt. Es ist zum Beispiel nicht möglich, sich nur in eine Sprachrichtung beeidigen zu lassen. Folglich werden automatisch viele englische Muttersprachler ausgeschlossen, die sich an das Muttersprachlerprinzip halten, und es entsteht eine noch größere Nachfrage nach Übersetzern, die beeidigte Übersetzungen in die Fremdsprache Englisch anfertigen.
Im Hinblick auf diese entgegengesetzten, aber anscheinend parallel funktionierenden Praktiken erschien es mir angemessen, das Muttersprachlerprinzip näher zu untersuchen.
Auf welchen Annahmen basiert das Muttersprachlerprinzip?
Das Muttersprachlerprinzip basiert, meiner Meinung nach, auf folgenden 2 Annahmen:
1. Nicht-Muttersprachler der Zielsprache sind nicht in der Lage, adäquate Übersetzungen anzufertigen;
2. Muttersprachler der Zielsprache werden immer adäquate Übersetzungen anfertigen.
Beide Annahmen beschäftigen sich vor allem mit dem Aspekt der sprachlichen und stilistischen Sicherheit in der Zielsprache. Obwohl es für die traditionellen Formen der Übersetzung, wie zum Beispiel Literaturübersetzungen, zutreffen mag, dass der Redefluss im Zieltext oberste Priorität hat und ein Muttersprachler der Zielsprache den stilistisch besten Zieltext produzieren wird, scheint dieser Standard jetzt auch automatisch auf alle anderen Arten der Übersetzung, einschließlich der Übersetzung juristischer Dokumente, Anwendung zu finden, und hier sehe ich Probleme.
Um eine präzise juristische Übersetzung anfertigen zu können, muss die Übersetzung nicht nur stilistisch korrekt, sondern auch inhaltlich genau sein. Der juristische Übersetzer muss teilweise sehr komplizierte und rechtssystemgebundene Inhalte nicht nur zwischen zwei Sprachen, sondern auch zwischen zwei Rechtssystemen übersetzen. Dafür sind nicht nur gute Sprachkenntnisse, sondern darüber hinaus gute Rechtskenntnisse unabdingbar. Leider ist dies oft utopisch, zumal Übersetzer selten umfassendes Wissen in den Rechtssystemen der Ausgangs- als auch der Zielsprache vorweisen können. Es wird also klar, dass man sich in vielen Fällen wohl oder übel auf Kompromisse einlassen muss. Da im juristischen Bereich der Großteil der Übersetzungen zu Zwecken der Referenz und der Information erfolgt, weil zum Beispiel Geschäftsleute, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, in Deutschland agieren und damit gleichzeitig alle Geschäftsvorgänge dem deutschen Rechtssystem unterliegen, muss die fachliche Korrektheit Vorrang haben. Vor diesem Hintergrund ist für ein sehr kompliziertes rechtliches Thema wahrscheinlich doch ein muttersprachlicher Experte der Ausgangssprache (zum Beispiel ein deutscher Rechtsanwalt) der geeignetere Übersetzer, da dieser in der Lage ist, die Besonderheiten spezieller Rechtsfragen nach deutschem Recht zu erklären – vorausgesetzt, die Übersetzung liest sich flüssig genug und lässt keine Verständnisprobleme zu.
Als englische Muttersprachlerin, die selbst nie auf die Idee kommen würde, aus der Muttersprache zu übersetzen, möchte ich ganz sicher nicht behaupten, dass wir als Übersetzer die Muttersprache ganz außer Acht lassen sollten. Ich finde, wir sollten allerdings genau überlegen, was wir damit meinen, wenn wir vom Muttersprachlerprinzip sprechen und noch wichtiger, wenn wir andere, die sich nicht daran halten, deshalb nicht achten. Selbst in hochspezialisierten Bereichen wird es sicherlich Fälle geben, in denen ausschließlich eine Übersetzung von einem Muttersprachler der Zielsprache die gestellten Ansprüche erfüllen wird. Um jedoch einer Übersetzung dieser Art gerecht zu werden, muss der Muttersprachler aber auch unbedingt über das erforderliche Fachwissen verfügen. Eine Übersetzung, die die Ausgangstextaussage mit ein paar stilistischen und sprachlichen Fehlern (die von einem Korrektor verbessert werden können) präzise übermittelt, ist zwingend einer Übersetzung vorzuziehen, die sprachlich und grammatikalisch einwandfrei ist, jedoch die Ausgangstextaussage verzerrt oder gar fehlinterpretiert. Solche inhaltlichen Fehler sind im finalen Zieltext dann nicht mehr erkennbar, wenn der Leser nicht auf den Ausgangstext zurückgreifen kann. Werden geschäftliche und juristische Entscheidungen basierend auf einer solchen irreführenden Übersetzung getroffen, kann großer Schaden entstehen. Es erscheint mir also nicht nur ungerecht, sondern auch als ein großer Fehler, adäquate Übersetzungen von Nicht-Muttersprachlern der Zielsprache nicht zu würdigen, insbesondere dann, wenn man damit gleichzeitig nicht-adäquate, d.h. fehlerhafte Übersetzungen von Muttersprachlern der Zielsprache favorisiert.
Anstatt allgemeine Pauschalaussagen zu treffen, ist es auf jeden Fall am sinnvollsten, sich den Zweck der konkreten Übersetzung vor Augen zu halten und auf dieser Grundlage die Entscheidung zu treffen, welcher Übersetzer für das jeweilige Projekt am geeignetsten ist.
Ursprünglich veröffentlicht auf dem Blog From Words to Deeds
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Bildquelle: Jeffrey Beall, Flickr